LINDER STERLING – Frau Objekt

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Linder - Untitled | collage on paper | 1976

Die kestnergesellschaft präsentiert bis zum 04. August 2013 die erste institutionelle Einzelausstellung von Linder Sterling in Deutschland. Die Künstlerin, genannt »Linder«, gehört zu den Protagonistinnen des britischen Punk / Post-Punk der späten 1970er Jahre. Die Ausstellung in Hannover vermittelt mit rund 200 Werken aus vier Jahrzehnten nun erstmals einen umfassenden Überblick ihres vielfältigen Schaffens.


Bis heute umspannt Linders künstlerische Praxis die Bereiche Kunst, Musik, Tanz und Mode und vereint unterschiedliche Medien wie Collage, Fotografie, Video und Performance.

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Mit provozierender Unverblümtheit parodiert Linder in ihrer Arbeit Geschlechtervorstellung und bemächtigt sich des Bildes der Frau als (Sex-)Objekt. Mit ihrem kompromisslosen feministischen Ansatz hinterfragt die Künstlerin in ihren Arbeiten sozial kodierte und kulturell verwurzelte Geschlechtervorstellungen und die sexuelle Vermarktung des weiblichen Körpers.

Linder Sterling wurde 1954 als Linda Mulvey in Liverpool geboren. Ende der 1970er Jahre war sie in Manchester eine Schlüsselfigur der kulturell explosiven Momente des Punk und Post-Punk mit Bands wie Buzzcocks, Magazine, Joy Division oder The Smiths und Morrissey, mit dem sie bis heute ein künstlerischer Austausch und eine enge Freundschaft verbindet.

Seit Beginn ihrer Karriere bedient sich Linder aus dem unerschöpflichen Bilderfundus illustrierter Unterhaltungs- und Pornomagazine, die sie in ihren an Dada anknüpfenden Collagen neu zusammenfügt. Die Konstruktion gesellschaftlicher Identitäten spiegelt sich in den Selbstinszenierungen Linders, sei es als Gegenstand ihrer Selbstportraits in photographischen Arbeiten oder in musikalischen und choreographierten Performances, die sie für Museen und Bühnen entwickelt.

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Musée d’Art moderne de la Ville de Paris | bis 21. April 2013
kestnergesellschaft, Hannover | bis 04. August 2013

LINDER | Frau / Objekt

Pressetext: kestnergesellschaft | www.kestnergesellschaft.de
Katalog LINDER STERLING - Frau Objekt

KATALOG | Linder. Frau / Objekt. 
Woman / Object

144 Seiten
mit 112 (23 farbigen) Abbildungen,
broschiert
Text: Deutsch / English

Der Katalog wurde in Form eines Fanzines gestaltet und in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin entwickelt.

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Linder ist einer der Protagonisten des britischen Punk der späten 1970er Jahre. Ihre künstlerische Praxis umfasst seit jeher Kunst, Musik, Tanz und Mode und vereint verschiedene Medien wie Collage, Fotografie, Video und Performance. Mit ihrem kompromisslosen feministischen Ansatz hinterfragt sie gesellschaftlich kodierte Vorstellungen über Geschlecht und die sexuelle Vermarktung des weiblichen Körpers. Seit Beginn ihrer Karriere schöpft Linder aus der unerschöpflichen Quelle von Pornos und Hochglanzmagazinen, die sie in dadaistischen Collagen zusammenstellt. Die Konstruktion sozialer Identitäten spiegelt sich in Linders eigener Selbstinszenierung wider, sei es als Sujet ihrer Selbstporträts oder in Performances, die sie für Museen und Theater entwickelt.

Als Linda Mulvey 1954 in Liverpool geboren, ändert sie ihren Vornamen als sie 22 Jahre alt ist, auch wegen des deutschen Klangs von »Linder«. Zu dieser Zeit studiert Linder in Manchester Grafikdesign. Die ehemalige Industriestadt ist Opfer einer schweren ökonomischen Krise, über 70% der Gebäude in der Stadt stehen leer. Über New York und London kommend stößt der Punk in das kulturelle Vakuum.

Es beginnt mit einem legendären Konzert der Sex Pistols im Juni 1976, indessen Folge Bands wie Buzzcocks, Magazine, Joy Division, The Fall und The Smiths mit Morrissey Musikgeschichte schreiben. Linder ist eine Schlüsselfigur der Szene und schafft mit ihrer Collage für das Cover der Buzzcocks-Single »Orgasm Addict« eine Ikone des Punk: ein glänzender, nackter Frauenkörper mit zwei grinsenden Mündern auf den Brüsten und einem Bügeleisen als Kopf.

Linder Sterling -promotional poster for Buzzcocks Orgasm Addict single - 1977 - left - riginal - right
Linder Sterling - promotional poster 
for Buzzcocks Orgasm Addict single - 1977 - left | Original - right

Linders Collagen folgen dem »Do-it-yourself-Prinzip« des Punk. In einem Spiel zwischen Offenbaren und Verbergen montiert sie Bilder aus Pornomagazinen mit Fotos von Haushaltsgegenständen, Maschinen, Kuchen oder Blumen — um nur einige der eingefügten Bildausschnitte zu nennen —, die meist den Kopf oder das Geschlecht verdecken.

Seit ihren frühen Collagen aus den 1970er Jahren sind vorgegebene Bilder von Weiblichkeit, insbesondere der sexualisierte Körper als Konsumprodukt und die domestizierte Frau Hauptangriffspunkte von Linders Arbeiten. Dabei geht sie immer von vorhandenen Bildern aus, die sie durch Eingriffe mit dem Seziermesser in einen anderen Zusammenhang stellt, deren suggestive Kraft umleitet und ihre Bedeutung verschiebt. Dazu bemerkt Linder:

»Collage hat auch ihre eigene Form der Gewalt, in der Bestimmtheit, mit der sie Bilder einfordert oder zurückfordert, die mit Punk übereinstimmt — mit schreiendem Gesang und zerschlagenen Gitarren […]. Mich interessiert die Bedeutung des Schnitts und was es heißt, heute auf die gleiche Art Collagen zu machen in unserer Gegenwart des ‚cut and paste‘, das ohne die physische Geste auskommt.«

Ein Spiel mit Geschlechternormen dokumentieren auch Linders Fotos von Transvestiten in Manchesters Dickens Club. Die Schwulenbar war ein Rückzugsort, wo man als Punk nicht wegen seines Kleidungsstils angefeindet wurde. »Die Männer und Frauen in dem Dickens Club waren alle geschickt darin, ein gespaltenes Leben zu leben, sie konnten mühelos darin wechseln als Mann oder Frau wahrgenommen zu werden — sie hatten die Sprachen von beiden gelernt und beherrschten beide fließend.«


AUDIO | Ludus – My Cherry is in Sherry [ Single, 1980 ]


linder - she she

1978 gründet Linder ihre Band Ludus. Im Begleitheft der Ludus-LP »Pickpocket« erscheint die Serie »She/She« (1981), in der sie auf kühlen Schwarz-Weiß-Fotos glamourös Gesten weiblicher Maskerade durchspielt.

[ Ludus Pickpocket
Cassette Packaging & Booklet 
via goldminetrash ]

Zwei Jahre später wird Linders letzter Auftritt mit Ludus in dem Club The Haçienda, der sich einem unpolitischen Hedonismus verschriebenen hatte, zu einer provokanten Performance. Linder als überzeugte Vegetarierin trägt ein Kleid aus Geflügelresten, ihre Managerinnen verteilen im Publikum Fleischreste, die in Pornomagazine eingewickelt sind, der Club ist mit rot tropfenden Tampons dekoriert und schließlich offenbart Linder unter ihrem Kleid einen Dildo, den sie umgeschnallt hat. Sie singt und schreit: »Woman, wake up!«

Ebenso wie die Bilder, die Linder in neue Kontexte setzt, werden für sie auch Geschlechternormen zu flexiblen Rollen, deren Bedeutung in performativen Inszenierungen immer wieder verschoben werden kann.

Die von dem Modefotografen Tim Walker fotografierte Serie »Oh Grateful Colours, Bright Looks« (2009) zeigt Linder aufreizend posierend als englische Hausfrau im durchsichtigen Kunststoffkleid mit Plastikkorsett. Linders Faszination für Tanz spiegelt sich nicht nur in Collagen mit Balletttänzern sondern auch in dem Kurzfilm »Forgetful Green« (2010), der innerhalb eines Tages nach der dreizehnstündigen Performance »The Darktown Cakewalk: Celebrated From The House of FAME« (2010) mit denselben Charakteren in einem Rosenfeld gedreht wird. Ihre Erschöpfung kehren die Beteiligten — darunter Linder als Minerva Maus — in eine unbekümmerte Leichtigkeit um und improvisieren eine Pastorale aus Verrücktheit, Begehren und Chaos.


Aggressive Hardcorepornos unserer Zeit verfremdet Linder, in dem sie diese mit Fotos von Kuchen verbindet. Von Food Designern gestylt und verführerisch in Szene gesetzt, bekommen die Kuchen im Zusammenhang mit den Pornos eine verstörend körperliche Qualität. Die Leuchtkästen annektieren Hochglanzbilder einer Werbewelt, in der Begehren allein auf konsumierbare Objekte gerichtet ist, alles dem Warenkonsum unterworfen und zum Objekt wird. Einer einfachen Unterteilung in die Kritik böser Pornografie und Vergegenständlichung vs. Konstruktion alternativer Bilder von Weiblichkeit entziehen sich Linders Arbeiten jedoch.

Besonders neuere Arbeiten, in denen Linder Blütenköpfe auf heute fast antiquarisch anmutende Bilder von Pin-up-Girls montiert, wechseln mehrdeutig zwischen einer affirmativen Sinnlichkeit und der Überzeichnung gängiger Klischees von Weiblichkeit und Erotik. Linder stört den klar definierten Zweck der Bilder, und lenkt den Blick auf ihre bildnerischen Qualitäten auf unerwartete Analogien, Kontraste, und Spannungen. Sichtbar ist dabei immer auch die Lust, mit vorgefundenen Bildern zu experimentieren, sie mit fremden Bildern zu konfrontieren, ohne dass die Aussagekraft des Resultats immer vorhersehbar oder gar eindeutig bestimmbar wäre.

Die Retrospektive der kestnergesellschaft ist eine Kooperation mit dem Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, wo die Ausstellung vom 1. Februar bis zum 21. April 2013 zu sehen war.


Presseschau zur Ausstellung in Paris

Morrissey photographed in 1991 by Linder Sterling at the Sunset Marquis hotel (CA)
Morrissey photographed in 1991 by Linder Sterling 
at the Sunset Marquis hotel (CA)

Miedergepanzerte Hausfrau

Julian Weber für die TAZ | Artikel lesen

In seiner Schrift „Die Kunst des Schreckens“ behauptet der französische Philosoph Paul Virilio, zeitgenössische Kunst könne den Vorwurf ihrer Sinnlosigkeit nie völlig entkräften. Dagegen steht schon die große Errungenschaft von Punk, der, wenn auch nur für kurze Zeit, seine Sinnlosigkeit zu etwas Unvergesslichem transformierte. Punk war auch eine Antwort auf die Wirtschaftsmisere in Großbritannien und die Verelendung der Städte. Vollständig sei sie erst im Juni 1976 auf die Welt gekommen, erzählt Linder. Punk habe ihr damals ein neues Zuhause gegeben und psychische Robustheit.

In Vitrinen sind Grafiken und Collagen zu sehen, die Linder für Punkfanzines gestaltete, und Fotografien, die sie von Morrissey angefertigt hat, der so wie sie durch Punk erst den Sinn im Leben entdeckte und mit dem sie eine lange Freundschaft verbindet.


VIDEO | TateShots Issue 10 – Linder Sterling

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SOCIAL MEDIA anonym mit Hilfe des c't-Projektes Shariff

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