DIETER ROTH und die Musik

Hamburger Bahnhof, Berlin | bis 16. August 2015
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Dieter Roth - by Lothar Wolleh von Lothar Wolleh - www.lothar-wolleh.de 
Via wikipedia 
Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 CC BY-SA 3.0

Im Hamburger Bahnhof wird die Ausstellung zur Musik im Schaffen von Dieter Roth ergänzt um ausgewählte Werke und Schallplatten von Künstlerinnen und Künstlern, die sich hinsichtlich ihrer Fragestellungen und Herangehensweisen an die musikalische Tradition mit Roths Arbeiten in Beziehung setzen lassen. 


Im Zusammenspiel mit Werken von George Brecht, Rodney Graham, Annika Kahrs, Ragnar Kjartansson & Alterazioni Video, Bruce Nauman, Nam June Paik, Markus Sixay, Die Tödliche Doris und Schallplatten aus dem Archiv Broken Music. Diese Werke zeugen vom bis heute anhaltenden Interesse bildender Künstler an der Musik.

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Die Ausstellung vereint – in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik / Fachhochschule Nordwestschweiz, Musik-Akademie Basel, Edizioni Periferia, Luzern und der Nationalgalerie — Staatliche Museen zu Berlin – rund 200 Werke, von Papierarbeiten bis Installationen, sowie Tonaufnahmen und Dokumente, in denen Musik eine Rolle spielt.

„Auf der Olivetti-Yamaha-Grundig Combo etwa könnte man einen Brief tippen, der gleichzeitig in Musik umgesetzt wird, die sich auf einem Kassettenrekorder aufnehmen lässt — für einmal ein spielerisch poetisches Multitasking.“ [ Matthias Haldemann, Kunsthaus Zug ]

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Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin | bis 16.08.2015

Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik

Pressetext: Hamburger Bahnhof / Kunsthaus Zug

Dieter Roth (1930-1998) arbeitete mit so unterschiedlichen Medien wie Zeichnung, Malerei, Assemblage, Installation, Druckgrafik, Buchkunst, Literatur, Aktion und Film. Seit 2008 befindet sich eines seiner Hauptwerke, die monumentale „Gartenskulptur“ (1968ff.), als Schenkung der Friedrich Christian Flick Collection in der Sammlung der Nationalgalerie. Wenig bekannt und beachtet sind bisher Roths zahlreiche musikbezogene Projekte und Werke, die nun erstmals umfassend vorgestellt werden.

Die Musik spielte für den Künstler zeit seines Lebens eine grosse Rolle und durchdringt sein Werk in diversen Formen. Musikinstrumente sind als stumme Reliefs neben Kassetten- und anderen Audiogeräten in seine Assemblagen integriert und kommen häufig als Motive in seinen Papierarbeiten und Bildern vor. Dieter Roth trat auch als Musiker auf die Bühne, spielte alleine oder als Teil des Künstlerkollektivs Selten gehörte Musik an öffentlichen Konzerten. Er nahm Langzeit-Tonarbeiten auf und edierte viele Schallplatten u.a. von Hermann Nitsch und AndréThomkins. Roth war ein Vielhörer aller Musikrichtungen, hatte eine riesige Schallplattensammlung und ein eigenes Tonstudio. Seine Musik-Liebe galt vor allem der klassischen Musik, Schubert, Brahms und Schönberg ganz besonders.

Darüber hinaus kann die musikalische Perspektive einen neuen Zugang zum Gesamtwerk von Dieter Roth eröffnen, das von der Musik geprägt wurde. Die Musik erweist sich als wichtiger Bestandteil seines Multiversums. Über 150 Leihgaben von rund dreissig öffentlichen und privaten Leihgebern aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Island, Österreich und Spanien sowie eine Fülle von Dokumenten (Briefe, Tagebücher, Fotos) verwandeln die Ausstellungsräume in eine klingend-verstummte Gesamtschau von Roths musikalischkünstlerischem Schaffen.

Während der mehrjährigen Forschungsarbeit von Kunsthaus Zug, Hochschule für Musik / Musik-Akademie Basel und Edizioni Periferia kam in den Archiven des Künstlers in Island, Hamburg und Basel viel unveröffentlichtes Material zum Vorschein, das erstmals präsentiert wird. Darunter zahlreiche Ton- und Bilddokumente, so das Quadrupelkonzert (MusikAkademie Basel) und die Videoaufzeichnung des Konzerts Selten gehörte Musik Abschöpfsymphonie (Lenbachhaus München), der einzigen filmischen Konzertaufzeichnung mit Dieter Roth.

Mit Berlin verbinden Roth die in den 1970er Jahren in der Stadt veranstalteten „Berliner Dichterworkshops“ und mehrere Konzerte in der Reihe „Selten gehörte Musik“ mit Günter Brus, Hermann Nitsch, Arnulf Rainer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener u.a. Mit diesen Wiener Künstlerfreunden und auch mit seinen Kindern praktizierte er eine Art „dilettantischer Hausmusik“, und das in diesen Sessions etablierte Scheitern führte zu verblüffenden musikalischen Ergebnissen. In der Ausstellung wird Musik als wichtiger Bestandteil des Rothschen Multiversums erfahrbar.


AUDIO | Das Berliner Konzert 1974

| mehr Audiomaterial auf ubu-web


Das Dieter Roth Orchester

2006 erschien, in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk, eine Compilation, auf der Interpreten wie Mouse On Mars, Andreas Dorau oder Stereo Total Texte von Roth vertonen („Das Dieter Roth Orchester spielt kleine Wolken, typische Scheiße und nie gehörte Musik“, Intermedium Records 2006).

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Das Dieter Roth Orchester spielt kleine Wolken, typische Scheisse und nie gehörte Musik.

Andreas Dorau, Dieter Roth, Mutter, Ghostigital, Max Müller, Mouse on Mars, Stereo Total u.a.

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Die Abstrusitäten, Absurditäten und Surrealismen von Roths Texten erfahren hier in den sinnentleerten Mustern der Popmusik eine schrille und schräge Interpretation, klanglich zwischen New-Wave und DJ-Kultur angesiedelt. Herausgegeben 2006 von Wolfgang Müller (Die Tödliche Doris) und Barbara Schäfer.

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Ich glaube nicht, daß ich als Maler angefangen habe. Ich habe eigentlich als Dichter angefangen„, sagte Dieter Roth 1981 in einem Interview mit der Radioautorin Mechthild Rausch.

Dieter Roth goes Pop!

von Wolfgang Müller

De facto war der Wahlschweizer und -isländer Roth Grafiker, Schmuck- und Möbeldesigner, Filmemacher, Maler und Bildhauer, Dichter und Musiker. Zwischen 1956 und 1998 realisierte Roth mehr als 200 Buchprojekte mit Texten aller Art, darunter etliche Gedichtsammlungen. Ebenso entstanden zahlreiche Musikaufnahmen, von denen er mehr als 20 in liebevollen Kleinst-Editionen auf Vinyl oder als Kassetten veröffentlichte.

Roth war einer der vielseitigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts. Seit seinem Tod 1998 wurde er bereits mehrfach international in großen Werkschauen und Ausstellungen geehrt. Auch erschien im Jahr 2005 eine Sammlung von Prosa und Lyrik Roths, die auf die Bedeutung seines unverwechselbaren literarischen Werkes noch einmal aufmerksam macht. Musikmachen war für Dieter Roth nicht nur ein klangliches Experiment sondern ein Mittel, die Zusammenarbeit zwischen Künstlern zu pflegen. Roth zeigte seine Vorliebe für Kollaborationen bei konzertanten Performances mit künstlerisch-musikalischen Laientruppen, wo Schallplatten wie Selten gehörte Musik, Novembersymphonie oder Langstreckensonate aufgenommen wurden. Filmkamera und Tonbandgerät spielten eine erhebliche Rolle bei Solo- und Gemeinschaftsarbeiten.

Roth war ein Verfechter des Prozesshaften. Nichts musste so bleiben, wie es entstanden war, Überarbeitungen und Übermalungen waren ihm genauso Recht wie die Verwendung von Materialien, die Verfall und Verwesung des Kunstwerks mit sich brachten. Eine andere, nur vordergründig gegenläufige Ästhetik verfolgte er mit Tonbandaufnahmen und Radiosendungen sowie aufgezeichneten Interviews. Roths Vorgabe war hier immer, alles komplett ungeschnitten, mitsamt aller Nebengeräusche und -handlungen zu dokumentieren.

In der Textsammlung Mundunculum äußerte er bereits 1967 die Vermutung: „Bloß gesprochene Worte haben [dagegen] die Eigenschaft auf- und wegzufliegen (das der Armierung der Sprache verwendete Material — die Töne z.B. — haben ja einen Festigungsfaktor von annähernd null). Doch lasse man mich hier auf den — wie es jetzt schon scheint — tremenden Festigungsfaktor des in magnetischen Tonbändern enthaltenen Armierungsmaterials hinweisen, der innerhalb der Tendenzgruppen dieses Buches nicht berücksichtigt werden soll, da es dem Vortragenden hier nur um einen sozusagen ferienhaften Aufenthalt bei oder: Schrebergärtnerhafte Bearbeitung der papierenen Literaturpflanzen zu tun ist.“

Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische Scheiße und nie gehörte musik ist Teil einer von BR Hörspiel und Medienkunst initiierten dreiteiligen Radio-Hommage an Dieter Roth. Unter dem Motto jeder ist. so ein lärm waren Künstler/Autoren/Musiker eingeladen, sich ausgewählter literarischer und musikalischer Arbeiten und teils unveröffentlichter Materialien Roths anzunehmen. Es entstanden popmusikalische Konzepte, Songs, Kompositionen und Radiotexte einer jüngeren Generation, die sich von Roths Werk inspiriert und beeinflusst sieht, in Deutschland wie in Island, seiner zweiten Heimat.

Die oft zarte, zurückgenommene, aber auch kontroverse und kalauernde Lyrik eignete sich überraschend gut als Textbasis für die Popsongs der Musiker, die Wolfgang Müller als Dieter Roth Orchester zusammengebracht hat. Auch wenn sie nicht gemeinsam auf einer Bühne oder im Studio auftraten, war das Kollaborative im Sinne Roths schon in der Person Wolfgang Müllers und der vielfachen Vernetzung der Künstler und Musiker aus Island, Berlin, Hamburg und Köln untereinander gegeben. Die Radio-Hommage an Dieter Roth konnte mit Hilfe langjähriger Begleiter und Kenner seiner Arbeiten entstehen, deshalb geht mein Dank an Björn Roth, Hansjörg Mayer, Barbara Wien und Johannes Ullmaier. (Barbara Schäfer) Wenn sich das Leben richtet nach dem Falle wieder auf, hab ich die Falle schon gesichtet und haue dem Leben eins drauf (Dieter Roth).

„Frühe Schriften und typische Scheiße“ stand auf dem Cover, „1975 vorm einstampfen bewahrt und in zusatzumschlag herausgegeben von edition hansjörg mayer stuttgart london reykjavík“. Ich entdeckte das Buch als Ramschware in einer Grabbelkiste vor einer Buchhandlung am Berliner Ku’damm. Das war 1981 und das Teil kostete drei Mark. Ursprünglich 1973 in der Sammlung Luchterhand erschienen waren nur ein paar wenige Exemplare verkauft worden. Der Rest wartete nun in neuem Einband — rotbraune Lettern auf weißem Stoff — auf interessierte Käufer. Offensichtlich vergeblich. Dabei klang der Titel in der Punkatmosphäre jener Zeit überaus erfrischend. Besonders wenn man ihn mit jenen von Günther Grass, Martin Walser oder Heinrich Böll verglich. Ich erwarb das Werk, das heute als bibliophile Rarität in Antiquariaten um die 150 Euro angeboten wird. Das Gedicht Das Leben wurde fortan mein Favorit.

Bevor das Buch endgültig in den Sammlervitrinen zu verschwinden droht, wird es höchste Zeit, die wunderbaren und eigensinnigen Gedichte Roths endlich populär zu machen. Das geschieht am besten mit Hilfe von Popmusik. Für die Vertonung kamen Popstars in Frage, die sich einerseits in der Welt der populären Musik bewegen, gleichzeitig aber den schnöden Mainstream verachten. Die Eigenwilligen und Kompromisslosen also. Von den Texten Roths waren die angesprochenen Musiker sofort überzeugt, ja — fasziniert. Für ausgewählte Gedichte komponierten sie ganz unterschiedliche Soundtracks und Songs. Und schon ertönt ein ganzes Orchester. Spät, aber von Herzen: Dieter Roth goes Pop!


VIDEO


Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart

Öffnungszeiten

Mo geschlossen
Di / Mi 10 – 18 Uhr
Do 10 – 20 Uhr
Fr 10 – 18 Uhr
Sa / So 11 – 18 Uhr

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