EDVARD MUNCH. Der moderne Blick

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Edvard Munch - Die Sonne, 1911 | Öl auf Leinwand 
Public domain via wikipedia

Edvard Munch (1863—1944) wird für seine ausdrucksstarke symbolistische Malerei gefeiert und gilt als Bahnbrecher des Expressionismus. Die in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris entstandene Ausstellung in der Schirn bietet bis zum 28. Mai 2012 eine neue Sicht auf sein Schaffen: Edvard Munch war ganz und gar modern — so die These dieser rund 130 Werke umfassenden Schau.


„Edvard Munch. Der moderne Blick“ stellt das wenig erforschte Spätwerk bis 1944 in den Vordergrund und beweist, dass Munch nicht nur ein Künstler des 19. Jahrhunderts, sondern ebenso des 20. Jahrhunderts war. Im Zentrum wird Munchs Auseinandersetzung mit modernen Aufnahmetechniken wie Fotografie und Film oder der intimen Theaterbühne stehen. Seine Werke lassen erkennen, in welchem Maß er spezifisch fotografische oder filmische Kompositions- und Erzählformen, Posen und selbst Effekte in seine Malerei übernimmt.

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In Ergänzung zu den rund 60 Gemälden und 20 Arbeiten auf Papier sind zwei Kapitel Munchs eigener fotografischer und filmischer Produktion gewidmet. Gezeigt werden 50 Fotografien in Originalabzügen sowie vier Filme Munchs. Ein weiterer Aspekt der Ausstellung führt vor Augen, wie der Künstler ein und dasselbe Sujet in Zeichnungen, in der Fotografie, der Malerei, der Grafik und sogar der Bildhauerei verarbeitet hat. Die häufige Wiederaufnahme von Motiven ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Munchs Werk.

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Schirn Kunsthalle Frankfurt | bis  28. Mai 2012

Edvard Munch – Der moderne Blick

Pressetext: Schirn Kunsthalle Frankfurt | www.schirn.de
Kuratoren: Angela Lampe, Clement Cheroux
www.munchmuseet.no
KATALOG Edvard Munch - Der moderne Blick

KATALOG | Edvard Munch.
Der moderne Blick

Sprache: Deutsch
320 Seiten, 273 Abb.
24,00 x 30,50 cm
gebunden mit Schutzumschlag

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Welche Rolle spielen Fotografie und Film im Werk Edvard Munchs?

Der Band Edvard Munch. Der moderne Blick stellt erstmals das Interesse des Künstlers an modernen Repräsentationstechniken seiner Zeit wie Fotografie, Film, bebilderten Zeitschriften oder Bühnenbildentwürfen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Anhand von rund 60 Gemälden sowie 20 Arbeiten auf Papier von Edvard Munch (1863—1944) wird nachgewiesen, wie er spezifisch fotografische oder filmische Bau- und Erzählformen, Posen und selbst Effekte in seine Malerei übernimmt.

Zudem widmet sich ein Kapitel Munchs eigenen Versuchen in den Medien Fotografie und Film: Gezeigt werden 50 Fotografien in zeitgenössischen Abzügen sowie vier Filme des Künstlers. Darüber hinaus demonstriert der Band, wie Munch ein und dasselbe Sujet in Zeichnungen, in der Fotografie, der Malerei, der Grafik und sogar der Bildhauerei verarbeitet. Die häufige Wiederaufnahme von Motiven stellt einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis seines Werks dar.

Edvard Munch wurde 1863 in der norwegischen Provinz Hedmark geboren. Seine Mutter starb mit 33 Jahren an Tuberkulose, als Munch fünf Jahre alt war; 1877 wurde seine ältere Schwester Sophie Opfer der Schwindsucht. Tod und Krankheit begleiteten die Familie zeit seines Lebens und sollten Munchs Werk ebenso maßgeblich prägen wie seine chronische manisch-depressive Störung. Auf Wunsch des Vaters begann Munch 1879 ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Kristiania, dem heutigen Oslo, ein Jahr später wurde er an die Königliche Zeichenschule zugelassen.

Mehrere Aufenthalte in Paris führten ab 1885 zu Munchs Bruch mit dem impressionistischen Stil. Nach dem Tod seines Vater 1889 und einer tiefen Depression entwickelte Munch in einer Art expressivem Symbolismus Metaphern und Bildformeln für innere Erlebnisse und wurde zum Wegbereiter des Expressionismus.

Munchs zunehmender künstlerischer Erfolg zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging mit ruhelosen Aufenthalten in Paris und Berlin einher und wurde zunehmend von Alkoholproblemen und psychischen Konflikten begleitet. Nach einem Nervenzusammenbruch und einer mehrmonatigen Behandlung im Spätsommer 1908 ließ sich Munch wieder fest in Norwegen nieder. 1916 erwarb Munch das Anwesen Ekely in der Nähe von Kristiania, wo er bis zu seinem Tod am 23. Januar 1944 zurückgezogen, aber überaus produktiv lebte.


VIDEO | Schirn Trailer zur Ausstellung


Im Gegensatz zu der gängigen Einschätzung, die Munch im letzten Lebensdrittel als gequälten und isolierten Menschen sieht, zeigt die Ausstellung „Edvard Munch. Der moderne Blick“ den Künstler auf der Höhe der ästhetischen Debatten seiner Zeit und demonstriert, dass er sich in seinem Schaffen beständig im Dialog mit den neuesten Darstellungsformen befand.

In elf Räume und neun thematische Bereiche gegliedert illustriert eine reiche Auswahl wichtiger Gemälde und Arbeiten auf Papier, wie Munchs Kinobesuche, die Lektüre von Illustrierten und sein naturwissenschaftliches Interesse ebenso Einfluss auf seine malerische Praxis hatten wie seine eigenen Experimente mit Fotografie und Film. Ebenso führten seine Bühnenbilder für das moderne Theater zu einer neuen räumlichen Beziehung zwischen Betrachter und Bildmotiv.

Weitere Markenzeichen des „späten“ Munch sind die zahlreichen Wiederholungen von Sujets und die häufig damit verbundene Reduzierung auf eine prägnante Ausdrucksform.


Der moderne Munch

Im Allgemeinen gilt Munch als ein Künstler des 19. Jahrhunderts, dessen tendenziell symbolistische oder prä-expressionistische Malerei wie selbstverständlich in einem Atemzug mit der Paul Gauguins oder Vincent van Goghs genannt wird. Zwar wurde Munch 1863 geboren und begann in den 1880er Jahren zu malen, jedoch entstanden Dreiviertel seiner Werke in der Zeit nach 1900. Gestorben ist Munch 1944, im selben Jahr wie Piet Mondrian und Wassily Kandinsky.

Im Gegensatz zu den meisten Retrospektiven, die in den letzten Jahren dem Künstler gewidmet wurden, verfolgt diese Ausstellung das Ziel zu zeigen, dass Munch auch ein Maler des 20. Jahrhunderts war.

Munch wird häufig als einsamer Künstler gesehen, der sich ausschließlich der Darstellung seines inneren Universums widmete. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch reiste er ausgiebig, ging ins Kino, hörte Radio, las die internationale Presse und hatte zahlreiche illustrierte Magazine abonniert. Darüber hinaus setzte sich der Maler permanent mit den modernsten Darstellungsformen seiner Zeit auseinander, wie zum Beispiel dem modernen Theater, der Fotografie und dem Film. Er war sich vollkommen der Tatsache bewusst, dass diesen neuen Medien bis dahin nicht bekannte Erzähl- bzw. Darstellungsformen zu eigen waren und experimentierte selbst mit der Fotografie und dem Film. Mittels seiner Werke und seiner Versuche ergründete er Konzepte, die für die Kunst des 20. Jahrhunderts grundlegend wurden. Hierzu gehörte die Reproduzierbarkeit ebenso wie die Autobiografie oder die Stellung des Betrachters. Munch ist durch und durch modern.

Autobiografie

Genau wie Bonnard, Vuillard oder Mucha gehörte Munch zu jener Generation von Malern, die sich um die Jahrhundertwende als Amateurfotografen betätigt haben.

In Berlin erwarb dernorwegischen Künstler 1902 eine kleine Kodak Bull’s Eye Kamera und begann zu fotografieren. Neben einigen Aufnahmen von seinen Gemälden oder Orten, mit denen er Erinnerungen verband, machte Munch vor allem Selbstporträts.

Eher als mit den Malern seiner Generation ließe sich Munch mit den Schriftsteller-Fotografen dieser Epoche vergleichen. Seine Fotoarbeiten offenbaren, ebenso wie diejenigen eines August Strindberg, Pierre Loti oder Émile Zola, eine Obsession für das Selbstporträt, einen Willen, das eigene Leben in Bildern darzustellen.

In einem Interview aus dem Jahr 1930 erklärte Munch: „Eines Tages, wenn ich alt bin und nichts Besseres zu tun habe, als meine Autobiographie zu schreiben, werden alle meine Selbstporträts das Licht der Öffentlichkeit erblicken.“

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Edvard Munch- Mädchen auf der Brücke, 1902, 100 x 102 cm. 
Foto: © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Der optische Raum

Munchs Malerei zeichnet sich durch eine vollkommen einzigartige Behandlung des Raums aus.

In vielen Fällen basieren seine Kompositionen auf einer oder zwei diagonalen Kraftlinien, die die Wirkung der Perspektive verstärken, auf einer räumlichen Ausdehnung des Nahen zum Fernen, auf hervorspringenden Vordergründen, die häufig durch den Rahmen abgeschnitten werden, und auf einer Bewegung der Figuren in Richtung Bildvordergrund.

Diese Art zu malen zeugt noch von den Lektionen des 19. Jahrhunderts, des Impressionismus, des Japonismus, der Verwendung der Camera obscura oder der Fotografie. Allerdings übernimmt sie auch Darstellungsformen, die kennzeichnend sind für das 20. Jahrhundert.

Hierzu gehören zum Beispiel solche Bildformen wie sie die illustrierten Magazine oder das Kino mit seinen Bildern von Menschenmengen in Bewegung sowie auf die Kamera zulaufenden Personen oder Pferden eingeführt hatten. Munch bediente sich deshalb so häufig dieser spektakulären und dynamischen Kompositionsform, weil er eine möglichst enge Beziehung zwischen dem Gemälde und dem Betrachter herstellen wollte.

Auf der Bühne

Seit den 1890er Jahren versah Munch die von ihm dargestellten Szenen mit einer gewissen Theatralität. Das gilt insbesondere für die Anordnung der Figuren sowie deren feierliche, steife und oftmals frontale Haltung. Unter dem Einfluss von August Strindberg, mit dem er in den 1890er Jahren in Berlin häufig zusammenkam, und von Max Reinhardt, für den er 1906 und 1907 Regieskizzen und einen Bilder-Fries anfertigte, verstärkte sich diese Tendenz noch weiter.

Strindberg und Reinhardt vertraten die Idee des Intimen oder Kammertheaters, in dem die Distanz zwischen Schauspieler und Zuschauer so gering wie möglich ist, um die emotionale Anteilnahme zu erhöhen. Ihrer Ansicht nach sollte der Bühnenraum einer geschlossenen Kammer ähneln, bei der man lediglich eine Wand entfernt hätte, um sie zum Zuschauerraum hin zu öffnen. Genau diese Maßgabe machte sich Munch in der Serie Das grüne Zimmer zunutze, die er 1907, also unmittelbar im Anschluss an seine Zusammenarbeit mit Reinhardt, mit der Absicht begann, den Betrachter stärker in den Bildraum einzubeziehen.

Der Cineast

Mehrere Zeugnisse belegen, dass Munch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gerne regelmäßig ins Kino ging, um sich Wochenschauen, europäische oder amerikanische Spielfilme, Filme von Charles Chaplin usw. anzusehen. In den 1910er Jahren eröffnete sein Freund Halfdan Nobel Roede mehrere Kinosäle, in denen auch Werke von Munch hingen. Während einer Frankreichreise im Jahr 1927 erwarb der Maler eine kleine Amateurfilmkamera vom Typ Pathé-Baby.

Das erhaltene Filmmaterial mit einer Länge von 5 Minuten und 27 Sekunden veranschaulicht einmal mehr Munchs Faszination für das urbane Leben. In Deutschland und Norwegen filmt Munch das Hin und Her von Fußgängern, die Vorbeifahrt einer Straßenbahn oder Kutsche. Er beobachtet eine Frau, die an einer Straßenecke wartet, um sie dann einen Augenblick lang mit der Kamera zu verfolgen. Er bittet einen Freund, vor der Kamera herzugehen, filmt heimlich seine Tante und seine Schwester, baut schließlich die Kamera vor sich auf, beugt sich zum Objektiv vor und untersucht es eingehend, so als würde er hinter den Spiegel blicken wollen.

Strahlungen

Munch gehört einer Generation von Künstlern an, deren Vorstellungswelt zutiefst von einer Kultur der Strahlen geprägt war, die von den letzten Nachklängen des Mesmerismus über den Glauben an die Heilwirkung von Sonnenstrahlen bis hin zur Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Radioaktivität und den kabellosen Telegrafiewellen reichte. Munch ließ sich 1902 selbst röntgen und wurde in den Jahren 1908-1909 mit Strom behandelt. In seinen Archiven finden sich zahlreiche Prospekte für Höhensonnen. Munchs Bilder enthalten deutliche Hinweise auf diese Faszination für Strahlen. Er benutzt die für Röntgenstrahlen typischen Transparenzeffekte, so als würde er durch Köper hindurch sehen können, die an und für sich undurchsichtig sind. Er malt das irisierende Sonnenlicht im Gegenlicht oder die farbigen Schwingungen der Schatten. Seine Pinselführung scheint sich der Lichtfrequenz anpassen zu wollen, sie gerät in Schwingung, löst sich auf und beginnt manchmal sogar mit der Abstraktion zu liebäugeln.

Sehstörungen

Mittels des Selbstporträts wendet Munch den Blick um wie einen Handschuh. Nachdem 1930 eine Blutung im Glaskörper des rechten Auges zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Sehvermögens beim 66-jährigen Munch geführt hatte, trieb er diese Selbstbeobachtung noch weiter voran.

Über einen Zeitraum von mehreren Monaten versuchte er mit größter methodischer Präzision zeichnerisch das wiederzugeben, was er durch sein krankes Auge sah. Im Innern des Auges war der Bluterguss zu einer Form geronnen, die das normale Sehen überlagerte. In diesen Klecksen oder Flecken meinte der Maler einen Vogel, baumartige Formen, konzentrische Kreise zu erkennen.

Indem er das zeichnete und malte, was er durch sein krankes Auge erkannte, stellte Munch, der für eine gewisse Zeit zu einem Augenspezialisten wurde, seinen Blick, das Sehen selbst oder, um es mit einem Zitat von Max Ernst aus derselben Zeit zu sagen, „das Innere des Sehens“ dar. Er sah sich sehen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Munch als überaus modern; er ist ein modernes Auge.

Der umgekehrte Blick

„Als hätte er sich dazu entschlossen, die Wirkung der vergehenden Zeit aufzuzeichnen, schuf er jedes Jahr ein Selbstporträt“, schrieb der Sammler und Freund Munchs Rolf E. Stenersen.

Im 20. Jahrhundert malte Munch vermehrt Selbstporträts. In den 1880er und 1890er Jahren hatte er lediglich fünf Selbstporträts gemalt, nach 1900 kamen mehr als vierzig zusammen.

Nicht mitgerechnet die zahlreichen Zeichnungen, Grafiken und Fotos mit Selbstporträts oder die letzte Sequenz des kurzen Films von Munch, wo er auf die laufende Kamera zutritt und sich zu ihr vorbeugt, so als würde er auf die andere Seite des Spiegels treten wollen.

Durch diese fortgesetzte Praxis des Selbstporträts steckte Munch die Zeit ab, sah er zu, wie er alterte.

Diese Selbstbildnisse, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk ziehen, stellen eine faszinierende visuelle Autobiografie dar, die sich völlig mit dem Programm der norwegischen literarischen Bohème vom Ende des 19. Jahrhunderts deckt und dessen oberstes Gebot lautete: „Schreibe dein Leben!“

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SOCIAL MEDIA anonym mit Hilfe des c't-Projektes Shariff

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