Deftig BAROCK – Von Cattelan bis Zurbarán

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Bartolomeo Passerotti [1529-1592] - Die verrückten Liebenden (Ausschnitt)

Das Kunsthaus Zürich zeigt bis 02. September 2012 eine Gegenüberstellung von rund 80 zeitgenössischen Gemälden, Skulpturen, Filmen und Installationen mit der Kunst des 17. Jahrhunderts. Die Präsentation betont das «Deftige», denn Kuratorin Bice Curiger wählt das Thema der Vitalität, des Existenziellen, die in der Literatur über den Barock immer wieder zitierte Lebensnähe!


Mit «Deftig Barock» soll der Begriff des Barock herausgelöst werden aus der stilgeschichtlichen Betonung. Das Ausstellungskonzept bricht mit vielen Clichés: es geht nicht um Pomp, Schnörkel und Gold, sondern um «Manifeste des prekär Vitalen» — um verlorene, projizierte, gelebte, wiedererkannte, «bedrohte» Vitalität, in welcher der Tod omnipräsent ist, wie es im Untertitel anklingt.

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Kunsthaus Zürich | bis 02. September 2012

Deftig BAROCK – Von Cattelan bis Zurbarán.
Manifeste des prekär Vitalen

Pressetext: Kunsthaus Zürich | www.kunsthaus.ch
Kuratiert von Bice Curiger
Deftig Barock Von Cattelan bis Zurbarán Katalog - Deftig BAROCK - Von Cattelan bis Zurbarán

KATALOG | Deftig BAROCK.
Von Cattelan bis Zurbarán

176 Seiten,
ca. 200 farbige Abbildungen,
Softcover
30,5 x 24,5 cm

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Der Katalog zur Ausstellung ist eine Publikation für alle Sinne und mit einem Poster als Beigabe. Das Titelblatt des Katalogs zur Ausstellung zeigt eine unflätig herausgestreckte Zunge. Es ist Urs Fischers Noisette, eine überaus realistisch wirkende Silikonzunge, die, durch Bewegungsmelder aktiviert, aus einem Loch aus der Wand einer Ausstellung schnellt, um einen Moment lang sanft wippend vor den lachend überrumpelten Besuchern sichtbar zu bleiben, bevor sie wieder in der Höhle verschwindet. Gerade im barocken Norden war die herausgestreckte Zunge ein sehr beliebtes Motiv im Grundvokabular des Derben, Frechen, Deftigen, des sich spielerisch den Regeln Widersetzenden; und ist es bis heute geblieben…

Neben den Abbildungen der Werke, die in der Ausstellung gezeigt werden, enthält er zahlreiche Referenzabbildungen. Die ebenso anspruchsvollen wie unterhaltsamen Beiträge von Bice Curiger, Raoul Vaneigem, Elfriede Jelinek, Eileen Myles, werden durch die Transkription von einer Gesprächsrunde mit Nike Bätzner, Michael Glasmeier, Tristan Weddigen und Victoria von Flemming ergänzt. Besser als Wikipedia, übersichtlich und kompakt ist das extensive Glossar zum «deftigen Barock», zusammengestellt von Muriel Pérez, Filine Wagner, Bice Curiger und Gabrielle Schaad.


Das Wort «deftig» ist selber barock. Es führt etymologisch in seiner ursprünglichen Bedeutung von «tüchtig, stark, kräftig, solide» in die Zeit um das 17. Jahrhundert zurück, in den niederländischen Sprachraum. Deftig ist in dieser Ausstellung die Kunst in ihrer Direktheit und Lebensnähe. Als deftig im heutigen Sinne von «drastisch, saftig» lässt sich gewissermassen auch das Prinzip der konfrontativen Begegnung der Werke aus zwei weit auseinander liegenden Epochen bezeichnen.

Dabei geht es in «Deftig Barock» nicht um das illustrative Kurzschliessen von Motiven, Themen oder Formanalogien, vielmehr um das Aufspüren einer Haltung, die mit künstlerisch sensualistischer Intelligenz Lebensnähe als Vorstellung von «prallem Leben» beschwört sowie auch dessen Verlust beklagt. Eine Haltung, die darüber hinaus Fragen zur Kunst selber mit dieser verknüpft.

Der Barock wird mit Dynamik, Sinnenfreude, Verschwendung, mit dem Theatralen gleichgesetzt, mit der Abkehr von der ruhigen Feierlichkeit der klassischen Formen, aber auch mit einer Epoche der Instabilität und der zerbrechenden Ordnungen. Man hat im Barock eine «Kultur des Fliessens und der Interfaces» (Christine Buci- Glucksmann) erkannt oder den Beginn unserer Moderne (Erwin Panofsky).

Die Ausstellung soll auch daran erinnern, dass die Kunst des Barock erst seit den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre unangefochtene Wertschätzung erfährt — wie im Übrigen so oft —, veranlasst durch Kunsthistoriker, die aus einer gewissen Nähe zur Kunst ihrer Zeit den Blick auf die Vergangenheit wagten. Es war Erwin Panofsky, der im Barock «den Sieg des Subjektivismus» begründet sah, «der das Leiden und den Humor gleichermassen zum Ausdruck bringen will».

Mit Werken aus dem Barock unter anderen von Pieter Aertsen, Valentin de Boulogne, Jacob Jordaens.


«Deftig Barock»

konfrontiert Kunst der Gegenwart mit Bildern aus dem 17. Jahrhundert. Betont wird das «Deftige», die immer wieder zitierte Lebensnähe des Barock. Gleichzeitig soll der Begriff des Barock herausgelöst werden aus der gängigen stilgeschichtlichen Betonung und sich von den formalen Clichés distanzieren: Es geht nicht um Pomp, Schnörkel und Gold, sondern um Manifeste des prekär Vitalen — gelebte, wiedererkannte oder verlorene, projizierte und durch den Tod bedrohte Vitalität. Es soll hier für die Gegenwartkunst auch keine neobarocke Stilrichtung proklamiert werden. In unserer Zeit der stilskeptischen künstlerischen Arbeitsprozesse sucht die Kunst heute eher die Reibung mit der Realität und die Berührung mit existenziellen Aspekten.

Die Gegenüberstellung von Alten Meistern mit der Gegenwart birgt Versuchungen, denen sich die Kuratorin bewusst entzieht. Curiger verzichtet auf platte Analogien, Formvergleiche, Motivgegenüberstellungen oder das Beschwören sogenannter ewiger Werte. Ihre Selektion proklamiert keinen «Neobarocken Stil».

Die Künstlerinnen und Künstler lassen sich nicht mit dem gängigen «Barock-Etikett» behaften: Maurizio Cattelan, Robert Crumb, Nathalie Djurberg, Urs Fischer, Tobias Madison, Paul McCarthy, Boris Mikhailov, Marilyn Minter, Albert Oehlen, Cindy Sherman, Jürgen Teller, Diana Thater, Ryan Trecartin, Oscar Tuazon, die alle neue oder neuere Werke in der Ausstellung zeigen.


MANIFESTE DES PREKÄR VITALEN

Bice Curiger [ Auszug aus dem Vorwort des Kataloges zur Ausstellung ]

Das verborgene Thema dieser Ausstellung ist die Vitalität — nicht zuletzt, weil hier auf den «lebendigen Blick» vertraut wird, auf die Impulse der Gegenwartskunst, um die Werke des Barock neu zu sehen und andere Fragestellungen an sie heranzutragen. Deftig heisst kräftig, krass, derb: ein Wort, das in Verbindung mit herzhaften Speisen und erotisch direkter Sprache auftritt, aber kaum assoziiert wird mit edler Museumskunst. Und doch trifft es sich gut, dass «deftig» im 17. Jahrhundert, also in der Zeit des Barock, vom Holländischen in die deutsche Sprache aufgenommen wurde. Ein Wort, wie geschaffen, um die in der populären Literatur zum Barock so viel zitierten, die «Lebensnähe» und das «pralle Leben» feiernden Bilder, etwa der Niederländer Pieter Aertsen, Adriaen Brouwer, Jan Steen oder Peter Paul Rubens, in eine Chiffre zu fassen.

Pieter-Aertsen-Die-Fleischauslage
Pieter Aertsen Die Fleischauslage, 1551-55 
Öl auf Holz, 151 x 202 x 8,5 cm 
Bonnefantenmuseum, Maastricht

Deftig Barock stellt Kunst aus der Gegenwart Bildern aus dem 17. Jahrhundert gegenüber. Die Ausstellung will den Begriff des Barock herauslösen aus der gängigen stilgeschichtlichen Betonung und sich von Cliches distanzieren: Es geht nicht um Pomp, Schnörkel und Gold, sondern um Manifeste des prekär Vitalen — gelebte, wiedererkannte oder verlorene, projizierte und durch den Tod bedrohte Vitalität. Auch heute noch umweht die Museumspraxis und die Kunstgeschichte eine vom Leben abgehobene Aura. Eine Aura, die sich von der Vollkommenheit des künstlerischen Ausdrucks, dem Zeit überdauernden, der Essenz ewig wahrer menschlicher Werte zu nähren scheint. Doch diese Ausstellung wirft einen leicht verschobenen Blick auf die Kunstgeschichte, indem sie nicht darauf ausgerichtet ist, ein Festival der Meisterwerke anzubieten, nicht primär den Kanon feiert, sondern eine durch mehrere Jahrhunderte getrennte Kunst in den gemeinsamen Bereich des Nachvollziehbaren, in die Erlebniswelt setzt. Trotzdem sollen die Unterschiede evident bleiben. Nicht Zeitlosigkeit wird postuliert, sondern einer heute eher «geschichtslosen», auf ewige Gegenwart eingeschworenen Gesellschaft der Eintritt in eine ihr entglittene, in ihrer Lebendigkeit dagegen vertraut wirkende Welt angeboten.

Die Gegenüberstellung der Kunst des Barock mit ausgewählten Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler versucht, oberflächliche Motiv- und Formanalogien zu vermeiden, und greift dafür auf eine am Film orientierte Montagetechnik zurück. Dabei stossen zwei unterschiedliche, aber affine Realitäten aufeinander und befruchten sich gegenseitig, laden sich auf und unterbrechen die Linearität konventioneller Erzähltechniken.

Robert_Crumb - strong girl - Deftig Barock
Robert Crumb

Es soll hier für die Gegenwartkunst auch keine neobarocke Stilrichtung proklamiert werden. In unserer Zeit der stilskeptischen künstlerischen Arbeitsprozesse, die oft auf permanente Veränderung oder Brüche angelegt sind, hat die Kunst eine Ausrichtung auf einen übergeordneten Stil längst abgestreift. Wenn sie heute die Reibung mit der Realität und die Berührung mit existenziellen Aspekten sucht, so ist ihr der einstige Jargon eines «Ausdruckspathos» fremd.

Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zielten immer wieder auf das Gleichsetzen von Leben und Kunst. Heute hingegen scheint der essentialistische und expansive Furor abgelegt. Es ist nun eher die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Leben und Kunst, die auf reflektierte Art erprobt wird.

Die hochgradig akzentuierte Körperlichkeit in vielen Werken des Barock bietet Anlass zu Projektionen eines ungebrochen sinnlichen Universums. Man kann so gleichzeitig die eigene Unzulänglichkeit beklagen oder aber sich in den menschlichen und allzu menschlichen Erzählungen spiegeln und wiedererkennen.

Jan_Steen_verkehrte welt 1663
Jan Steen - Verkehrte Welt 1663

Der Barock wird mit Dynamik, Sinnenfreude, Verschwendung, mit dem Theatralen gleichgesetzt, mit der Abkehr von der harmonischen Feierlichkeit der klassischen Formen, aber auch mit einer Epoche der Instabilität und der zerbrechenden Ordnungen: In der Ausstellung Deftig Barock sind die Werke des 17. Jahrhundert in vier offenen Räumen jeweils in Unterthemen gruppiert.

  • Eines umkreist die Genremalerei: das Bäurische, die Kuchenszenen, die üppigen Marktstände, die Hochzeitsgelage der fröhlich ausgelassenen, für eine damalige neue bürgerliche Käuferschicht entwickelten Motivwelt. Im gleichen Raum sind Beispiele des Burlesken und Grotesken vereint.
  • Ein zweiter Raum präsentiert Werke mit mythologischen Themen. Sie laden ein ins Reich der literarischen Anspielungen, der Fantasie und verfeinerten Erotik. Die schlafende Venus, von Nymphen und Satyrn beobachtet, oder die von den Alten bedrängte Susanna waren gängige, auch die voyeuristischen Triebe bedienende Themen, um das wollüstige Treiben zwischen den Geschlechtern ins libertinäre Bild zu setzen.
  • In einem weiteren Raum der Ausstellung wird die Malerei des Helldunkels aus der Einflusssphäre Caravaggios gezeigt.
  • Vielfältige Allegorien und Porträts sind im letzten Raum der Ausstellung gruppiert. Im Barock erlebt das seit der Antike bekannte Motiv der Vanitas seinen Höhepunkt. Kriege und Katastrophen machten den Tod allgegenwärtig, was sich in zahlreichen Symbolen wie Totenköpfen oder erloschenen Kerzen, aber auch in Bildmotiven wie Schiffen auf stürmischer See widerspiegelte. Das Stillleben nimmt dabei eine besondere Rolle ein.

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SOCIAL MEDIA anonym mit Hilfe des c't-Projektes Shariff

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