Ernst Ludwig KIRCHNER – Hieroglyphen

Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin | bis 26. Februar 2017
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Ernst Ludwig Kirchner: Badende am Strand (Fehmarn), 1913, 
Öl auf Leinwand, 76 x 100 cm,
© bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jörg P. Anders

Die Nationalgalerie zeigt in der „Neuen Galerie“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin vom 23. September 2016 bis zum 26. Februar 2017 sämtliche Werke von Ernst Ludwig Kirchner aus den eigenen Sammlungsbeständen, ergänzt um zeitgenössische Arbeiten von Rosa Barba und Rudolf Stingel.


Mit der Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner: Hieroglyphen werden die Werke Kirchners aus der Sammlung der Nationalgalerie erstmals geschlossen vorgestellt. Kaum ein Museum in Deutschland kann die Vielfalt im Schaffen dieses Künstlers so eindrücklich wiedergeben wie gerade die Nationalgalerie mit ihrem Bestand.

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Ergänzt durch markante Leihgaben, die Kirchners Konzept der ‚Hieroglyphe‘ verdeutlichen, und Arbeiten der zeitgenössischen Künstler Rosa Barba und Rudolf Stingel bietet die Ausstellung einen neuen Einblick in das Schaffen des Expressionisten.

Das Erlebnis der Großstadt, die „unmittelbare Ekstase“, erklärt Ernst Ludwig Kirchner, mündet bereits beim Zeichnen in „fertige Hieroglyphen“. Kirchner beschreibt mit diesem Begriff seinen Akt der künstlerischen Übersetzung.

Die Vielfalt des Gesehenen und Erlebten erscheint in Kirchners Gemälden und Skulpturen nicht realistisch, sondern skizzenhaft überzeichnet. Figuren, Gebäude, Landschaften hat Kirchner abstrahiert, auf einzelne Elemente hin verdichtet. Die Rolle der Erzähler übernehmen oft sprechende Details wie Hüte, Schuhspitzen, Fensterlaibungen, Brückenbögen.

Malerei erscheint in diesem Sinne wie ein System aus offenen Zeichen, aus Hieroglyphen.

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Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin | bis 26. Februar 2017

Ernst Ludwig KIRCHNER – Hieroglyphen

Pressetext: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin 
Kurator: Joachim Jäger

Die Ausstellung lenkt unter diesem Fokus den Blick auf die 17 Gemälde der eigenen Sammlung: vom frühen „Sitzenden Akt“ der Dresdner Brücke-Zeit über die „Badenden am Strand“ aus Fehmarn, bis zu den formal so dicht angelegten Werken wie „Max Liebermann“ oder „Wiesenblume und Katze“ im Spätwerk.

Zahlreiche Fotos, aufgenommen von Kirchner selbst, aber auch Bücher und Zeichnungen ergänzen die Präsentation und verdeutlichen die kulturellen Bezüge einer scheinbar so freien und spontan entstandenen Malerei.

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KATALOG | Ernst Ludwig Kirchner.
Hieroglyphen

LESEPROBE

Taschenbuch
Broschur
184 Seiten
zahlreiche vierfarbige Abbildungen
Sprache: Deutsch

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Verweise auf Carl Einsteins Buch „Negerplastik“ oder auf den Ausdruckstanz der 1920er Jahre belegen Kirchners Auseinandersetzung mit vielfältigen Kulturen. Kunsthandwerkliche Arbeiten Kirchners wie die für seine Atelier- und Wohnräume geschnitzten Möbel oder ein nach seinem Entwurf gefertigter Teppich zeigen die Verquickung der verschiedenen künstlerischen Medien und die Aneignung verschiedenster kultureller Referenzen.


VIDEO | Ausstellungsfilm

Gerahmt wird die Ausstellung von zwei zeitgenössischen Positionen: der in New York lebende Künstler Rudolf Stingel hat Gemälde nach fotografischen Vorbildern von Kirchner geschaffen. In seiner Version der Stafelalp stehen dort mitabgebildete Lebensspuren von Kirchner für zweierlei: für die Patina der Fotografie und für Fragen zu den grundsätzlichen Möglichkeiten von Malerei.

Eingeleitet wird die Ausstellung zudem von einem Film der italienischen Künstlerin Rosa Barba. Zu sehen ist die Sammlung im Depot der Neuen Nationalgalerie. Von der Welt Kirchners also weit entfernt, lenkt der Film den Blick doch erneut auf sprechende Zeichen: im theatralisch angelegten Dämmerlicht beginnen sich die festen Zuordnungen und Konturen aufzulösen. Die Sammlungsstücke werden zu Schemen ihrer selbst, zu fast geisterhaften Erscheinungen.


Auszug aus dem Katalogsaufsatz von Joachim Jäger:

Strichmuster, Luftschatten, Hieroglyphen

Die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner: Hieroglyphen“ unternimmt den Versuch, den Fokus verstärkt auf Kirchners Zeichensprache zu lenken. Denn auffällig und oft beschrieben im Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner ist der starke Drang nach Abstraktion und Übersetzung.

Die von ihm dargestellten Stadtszenen, die porträtierten Personen wie auch andere von ihm ausgewählte Motive sind eben nicht „realistisch“, sondern zeichnerisch und malerisch stark überformt. Kirchner überträgt das Gesehene in Formen und Chiffren, die sich in den Werken immer wiederholen, abstrakte Zeichensysteme, aus denen Ernst Ludwig Kirchner seine Werke zusammensetzt und die klare Referenzen aufweisen: auf bestimmte Vorstellungen von Mensch und Stadt, von der Sprache der Körper oder den Formen der Architektur, von Alltagsdingen, denen in den Werken besondere Bedeutungen zugewiesen werden, oder auf Anleihen aus eigenen und außereuropäischen Kulturen.

Die Ausstellung möchte den Blick auf diesen Prozess der Abstraktion lenken. Besonders aufschlussreich hierfür ist der von Kirchner selbst mehrfach verwendete Begriff der „Hieroglyphe“.

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Ernst Ludwig Kirchner - Wiesenblumen und Katze, 1931/32,
Öl auf Leinwand, 157 x 110 cm,
© bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Volker-H. Schneider

„Fertige Hieroglyphen“

In einem Text von 1919, spricht Ernst Ludwig Kirchner von „fertigen Hieroglyphen“, die beim Skizzieren entstünden: „Der beste Prüfstein für die künstlerische Arbeit des Bildenden ist die Zeichnung, die Skizze. In ihrer unmittelbaren Ekstase erfassen sie die reinsten und feinsten Gefühle des Schaffenden an der Fläche in fertigen Hieroglyphen“. „Das Gefühl“, schreibt er zwei Jahre später unter dem von ihm häufig verwendeten Pseudonym Louis de Marsalle, „bildet immer neue Hieroglyphen, die sich aus den anfangs wirr scheinenden Linienmassen ausscheiden und zu fast geometrischen Zeichen werden.“

„Linien und die von ihnen gebildeten Formen“, führt Marsalle alias Kirchner an anderer Stelle desselben Textes aus, „[…] sind Hieroglyphen in dem Sinne, daß sie Naturformen in einfachere Flächenformen bringen und dem Beschauer ihre Bedeutung suggerieren, wie das geschriebene Wort Pferd jedem die Form Pferd vor Augen stellt.“

Der eigentlich vieldeutige, nach altägyptischer Weisheit, nach Rätsel und Geheimnis klingende Begriff war um 1900 gebräuchlich.


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Erna Schilling und Ernst Ludwig Kirchner im Atelier Berlin-Wilmersdorf, 
Durlacher Straße 14, um 1912/14
Glasnegativ, 18 x 24 cm
Kirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 1992
© Kirchner Museum Davos/Stephan Bösch, sichtweise.ch

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938)

Zusammen mit weiteren kunstinteressierten Kommilitonen, darunter Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl gründete er 1905 die Künstlergruppe „Brücke“. Zum Ziel hatten sie den Aufbruch zu neuen Ufern in der Kunst wie im Leben erklärt, wollten sich von der als verstaubt empfundenen Kunst der Akademien abwenden und einen unmittelbaren und intuitiven Zugang zur künstlerischen Gestaltung finden. Weitere Mitstreiter fanden die jungen Künstler unter anderem in Emil Nolde, Max Pechstein und Otto Mueller.

Im gemeinsamen Malen von Akten, im Atelier und in der Natur, strebten die „Brücke“-Künstler nach dem Ideal des ursprünglichen Menschen. Ein Vorbild wurde auch die außereuropäische Kunst, die in den Völkerkundemuseen und aus Publikationen rezipiert wurde. In dem Gedanken, Kunst und Leben als Einheit zu verbinden, gestalteten die „Brücke“-Künstler ihre Ateliers mit selbst geschnitzten Möbeln und Gebrauchsgegenständen sowie bemalten Stoffen zu Gesamtkunstwerken.

1911 verlegten alle „Brücke“-Künstler ihren Wohnsitz vom beschaulichen Dresden in die Hauptstadt Berlin. Hier begann die Individualisierung der einzelnen Künstler – besonders Kirchner stürzte sich mit Enthusiasmus in den Trubel der Großstadt. Er sammelte Eindrücke und Ideen in den Vergnügungsvierteln der Stadt, besuchte Bars und Musikcafés und beobachtete das nächtliche Treiben auf den Straßen, immer mit dem Stift in der Hand. In den Kokotten, verführerisch und bedrohlich zugleich, entdeckte er ein Sinnbild der Entfremdung des modernen Menschen. Als Ausgleich zu dem hektischen Leben der Stadt verbrachte Kirchner die Sommermonate auf der Ostseeinsel Fehmarn, die für ihn ein unbeschwertes Südseeparadies im Norden wurde.

1913 löste sich die „Brücke“ auf, die Vorstellungen der einzelnen Mitglieder hatten sich auseinanderentwickelt. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete sich Kirchner zunächst freiwillig. Bereits während der Rekrutenausbildung jedoch kündigten sich psychische Probleme an, da er als Soldat sein Selbstverständnis als Künstler hätte aufgeben müssen. Mehrere Aufenthalte in Sanatorien folgten, doch Kirchner litt weiter an Angstzuständen und Panikattacken. Erst als er 1917 ins Schweizerische Davos zu einer Kurbehandlung reisen konnte – und damit einer erneuten Einberufung entging –, trat eine Besserung seines Zustands ein.

Kirchner ließ sich dauerhaft in Davos nieder. In den beiden Almhäusern, die er bewohnte, richtete er erneut umfassend gestaltete Wohn- und Atelierräume ein und befasste sich mit Entwürfen für gewebte Teppiche. Kirchner erfuhr zunehmende Anerkennung für sein Schaffen und wurde durch museale Ausstellungen gewürdigt. Auch empfing er zahlreiche Besucher – Künstler, Sammler und Kunsthistoriker – in seinem alpinen Domizil. Unter dem Pseudonym Louis de Marsalle veröffentlichte Kirchner mehrere Schriften über sein künstlerisches Schaffen.

Zutiefst getroffen über die Verfemung seiner Kunst durch die Nationalsozialisten, vor allem in der 1937 durchgeführten Aktion „Entartete Kunst“, nahm sich Ernst Ludwig Kirchner im Juni 1938 das Leben.

Janina Dahlmanns


Neue Galerie
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart

www.ernstludwigkirchnerinberlin.de

Ernst Ludwig KIRCHNER – Hieroglyphen

bis 26. Februar 2017

Eintritt
Ernst Ludwig Kirchner: Hieroglyphen
Regulär 8 Euro
Ermäßigt 4 Euro

Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Öffnungszeiten
Di/Mi 10 – 18 Uhr
Do 10 – 20 Uhr
Fr 10 – 18 Uhr
Sa/So 11 – 18 Uhr
Montags geschlossen

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SOCIAL MEDIA anonym mit Hilfe des c't-Projektes Shariff

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