Die Teilung der Welt in Künstler und Betrachter gefährdet die Demokratie, hat Jochen Gerz in einem Interview gesagt. Aus diesem Grund realisiert der Künstler Projekte im öffentlichen Raum, die mit einem Aufruf zur Beteiligung der Bürger starten. Eine seiner bekanntesten Arbeiten ist das Mahnmal gegen den Faschismus in Hamburg-Harburg.
Am 4. April 2020 wurde Jochen Gerz 80 Jahre alt | www.gerz.fr
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Geboren 1940 in Berlin, lebt und arbeitet seit den späten 1960er Jahren in Paris. Zu seinen herausragenden Fähigkeiten gehört die Fähigkeit, einen hohen intellektuellen Anspruch mit den besonderen Bedingungen, Erwartungen und Möglichkeiten eines Kunstpublikums sowie einer engeren oder breiteren Öffentlichkeit zu verbinden. Verschiedene seiner Interventionen im öffentlichen Raum, vornehmlich in Frankreich („Le monument vivant de Biron“, 1996; „Le Cadeau“, 2001), und in Deutschland („Mahnmal gegen den Faschismus“, 1986; Hamburg-Harburg, „Mahnmal gegen Rassismus“, 1993; Saarbrücken) sind Beispiele einer rigorosen Haltung wider das Vergessen, die Ausgrenzung und für die Wahrung der Freiheit.
BUCH | Jochen Gerz. Res Publica. Das öffentliche Werk 1968-1999
Sondereinband Broschur 148 Seiten, 140 Abb., davon 47 farbig 22 x 28,10 cm Hatje Cantz Verlag (1999) Sprache: Deutsch
Seit Jochen Gerz in Hamburg-Harburg das »Mahnmal gegen Faschismus« realisiert hat, gilt seinem öffentlichen Werk international ein besonderes Interesse. An diesem ersten öffentlichen Monument des Künstlers wird seine neue Denkmalkonzeption deutlich: Erst die aktive Beteiligung des Publikums lässt das Mahnmal kontinuierlich im Boden versinken. Zwar bleibt auch nach der letzten Absenkung noch ein Teil der Stele durch eine Glasscheibe sichtbar, vor allem aber lebt das Denkmal in der Erinnerung derjenigen fort, die an ihm mitgewirkt haben.
Mit fotografischen und textlichen Dokumentationen der Werke macht der Band das öffentliche Werk von Jochen Gerz zugänglich: Die Plakatarbeiten von 1968 bis heute, die großen Monumente und Mahnmale der beiden letzten Jahrzehnte und die Internet- Skulpturen des Künstlers werden in ihrem Entstehungsprozess vorgestellt. Obwohl nicht ausgeführt, wird auch Gerz‘ Projekt zum Berliner »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« einbezogen. Zudem bietet der Band Einblicke in die Arbeit des Künstlers mit den Medien Radio, Zeitung und TV.
SLIDESHOW | Foto-Dokumentation 1986 – 1993 | Mahnmal gegen Faschismus
Harburger Mahnmal gegen Faschismus
Zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung beschloss die Bezirksversammlung Harburg im Januar 1983 einstimmig die Errichtung eines „Mahnmals gegen den Faschismus“ auf dem Harburger Rathausplatz. Nach Abschluss eines Wettbewerbs und intensiven Diskussionen fiel die Entscheidung zugunsten eines Entwurfs von Esther Shalev-Gerz (geb. 1948) und Jochen Gerz (geb. 1940), die eine besondere Form der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus beabsichtigten.
Sie bauten 1986 eine bleiummantelte Säule von zwölf Metern Höhe auf, die als Schreibgrund für Unterschriften und Kommentare zur NS-Zeit genutzt werden sollte. In acht Schritten wurde die Stele vom 10.10.1986 bis zum 10.11.1993 in das Erdreich abgesenkt, um Platz für neue Kommentare zu schaffen und so ein deutliches Symbol für das Eingraben der Erinnerung zu gestalten.
Chronologie der Absenkung:
Einweihung 10. Oktober 1986 1. Absenkung 1. September 1987 2. Absenkung 23. Oktober 1988 3. Absenkung 6. September 1989 4. Absenkung 22. Februar 1990 5. Absenkung 4. Dezember 1990 6. Absenkung 27. September 1991 7. Absenkung 27. November 1992 8. Absenkung 10. November 1993
BUCH | Harburger Mahnmal gegen Faschismus von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz
Am Ende waren es ca. 60.000 Beschriftungen unterschiedlichster Art — Unterschriften, nachdenkliche Worte, antifaschistische Zitate ebenso wie Sprüche und ausländerfeindliche Parolen —, die mit der Säule versenkt wurden. Die Absenkungen der Säule in die Erde wurde von Diskussionsrunden und Vorträgen zur Geschichte des Nationalsozialismus begleitet. Heute ist von dem Mahnmal nur noch die oben abschließende Bleiplatte im Gehweg zu sehen. Außerdem ermöglicht ein Fenster in der Fußgängerunterführung den Blick auf einen Teil der Stele. Tafeln erklären die Entstehung des Denkmals und den Anlass seiner Errichtung. Die „Leerstelle“ des versenkten Denkmals wird in der Inschrift mit den Worten erläutert:
„Wir laden die Bürger von Harburg und die Besucher der Stadt ein, ihren Namen hier unseren eigenen anzufügen. Es soll uns verpflichten, wachsam zu sein und zu bleiben. Je mehr Unterschriften der zwölf Meter hohe Stab aus Blei trägt, um so mehr von ihm wird in den Boden eingelassen. Solange, bis er nach unbestimmter Zeit restlos versenkt und die Stelle des Harburger Mahnmals gegen den Faschismus leer sein wird. Denn nichts kann auf Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben“.
Das war das Konzept und diese Worte in sieben Sprachen sind das, was am Ort verblieben ist.
In der ursprünglichen Vorstellung der Künstler sollte also ein Denkmal in der Interaktion mit den Menschen ( „ein Denkmal zum Mitmachen“ / Ot. Regionalzeitung ) entstehen, bei der eine Liste mit Namen eingraviert werden würde, und das gleichzeitig bei dieser Vollendung im Boden verschwunden wäre. Nur durch eine kleine Glasscheibe sollte ein Einblick auf einen Teil der Säule möglich sein, deren Inschrift ähnlich wie auf vielen anderen Denkmalen des Holocaust als eine lange Liste von Namen erschien, mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier im Gegensatz zu Listen der Namen von Opfern lebende Menschen, und zwar von diesen selbst geschrieben, zu lesen wären.
Jochen Gerz sprach bei seinen Arbeiten von „einem neuen Typus von Denkmälern, die die traditionell angestrebte kurze Betroffenheit des Betrachters ersetzt durch seine bleibende Mitautorenschaft und Mitverantwortung.“
Nach kurzer Zeit zeigte sich aber ein anderes Bild: die Säule war überzogen von einer ganzen Schicht von Namen und Sprüchen (x liebt y oder „Ausländer raus!“) und deren Durchstreichungen sowie Bildern und Graffiti. Im Laufe der Absenkungen sind bis zur letztendlichen Versenkung Schussspuren an der Bleiummantelung gefunden worden; es wurde auch versucht, am Fuße der Säule die ganze Ummantelung zu entfernen — schließlich wurden auch Hakenkreuze eingeritzt.
Der Künstler selbst kommentierte dies so: „Denn die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler.“An anderer Stelle vermerkte er: „Als Spiegelbild der Gesellschaft ist das Monument im doppelten Sinn problematisch, da es die Gesellschaft nicht nur an Vergangenes erinnert, sondern zusätzlich — und das ist das Beunruhigendste daran — an die eigene Reaktion auf diese Vergangenheit.“
„Versteckt – wie die ungern erinnerte Geschichte, wie Deutschland in diesem Jahrhundert seine Völkermorde durchgeführt hat. Verborgen – wie der untergründige Haß freundlicher Rentner auf diese, ihrer unbeirrbaren Überzeugung nach, sinnlose und scheußliche und zu teure moderne Kunst.
Der Schornstein ist schon gut, er müßte nur noch rauchen wurde dem Künstler schon kurz nach der Einweihung gesagt, seitdem folgten an die sechzigtausend belegbare Kontakte mit dem Objekt. Denn das Konzept funktionierte, die Bleioberfläche wurde ausgiebig benutzt in positivem wie negativem Sinne. Zu den Unterzeichnernamen kamen Sprüche und Zitate, Ausländerfeindliches und Hakenkreuze wurden manifest und mit „Nazis raus“ überschrieben, Filzstiftschmierereien und Sprüh-Tags, Ein- und Auskratzungen bis zur nackten Gewalt, mit der ein Loch in die ummantelnden Bleiplatten gerissen wurde.
Durch die regelmäßigen Absenkungen, durch Veranstaltungen und Diskussionen konnte das Mahnmal sein Anliegen immer wieder ins Gespräch bringen und erlangte so für seine aktive Lebensdauer eine hohe Präsens.
Die extremste Reaktion war, daß auf die Anlage sogar geschossen wurde.“
[ Hajo Schiff aus einem Beitragfür Kunst im öffentlichen Raum Hamburg ]
Riskanter und provokanter Umgang mit unserer Erinnerung an den Faschismus
Die Provokation entsteht aus den widersprüchlichen Aufforderungen. Stimmen wir der Inschrift zu, so tragen wir zugleich zum Verschwinden des Denkmals bei, statt es als ständige Ermahnung zu bewahren. Als Träger unseres Namens erinnert es uns trotz seines Verschwindens ständig an unser Versprechen. Statt uns zu entlasten, wird es zu einem weiteren Stachel unserer Erinnerung.
Lehnen wir die Aufforderung ab, zerkratzen wir die Inschriften, wie es häufig geschehen ist, kritzeln wir Naziparolen, Embleme, Albernheiten oder auch private Wünsche in das Blei, so ist diese aggressive Haltung gegen das Denkmal zugleich seine Bestätigung.
Es ist ein Mahnmal, das, so Walter Grasskamp, „nicht besser sein will als die Gesellschaft, die es aufgestellt hat.“
Als Entschwundenes stellt es mit Nachdruck an uns die Frage, was mit ihm entschwunden ist und was von ihm bleibt. Noch die Hoffnung des heutigen Besuchers, es könnten sich tatsächlich die möglichen etwa 60.000 Namen auf der Stele befinden, dürfte zum Anlaß werden, über das allzu naive Vertrauen in bekenntnishafte Denkmäler nachzudenken.
Jochen Gerz ist Rolandpreisträger 1990
Der Bremer Rolandpreis für Kunst im öffentlichen Raum 1990 geht an Jochen Gerz, der 1940 in Berlin geboren wurde und in Paris lebt.
Die Jury ehrt mit dieser Arbeit ein originäres Projekt für Kunst im öffentlichen Raum, das im Reflex auf das klassische Mahnmal dessen Fragwürdigkeit heute aufzeigt, das sich nicht ästhetisch in seine Umgebung integrieren und somit das Erinnern in einem formalen Akt aufheben will, sondern Mahnung und Erinnerung als einen sozialen Prozess versteht.
Je mehr sich daran beteiligen, umso obsoleter wird das Mahnmal selbst. Es muss schließlich verschwinden. Die Jury sieht diese erste Arbeit, die Jochen Gerz zusammen mit seiner Frau im öffentlichen Raum gemacht hat, in einem engen Zusammenhang mit der Thematik seiner ganzen Arbeit und in konsequenter Fortsetzung von Installationen wie z.B. ‚Exit/Materialien zum Dachau-Projekt‘ von 1987. Es geht um Erinnerungsarbeit, die von dem täglichen Bild- und Sprachausstoß der Medien verhindert und zugeschüttet wird.
Jochen Gerz versucht mit seiner Kunst gegen die tägliche Kulturarbeit des Ausgrenzens und Auslöschens anzuarbeiten, gegen eine Vorstellung von Kultur, die ihre Leistungen nur an ihren Images und Ideologien misst.« (Begründung des Preisgerichts, 1990)
Das Harburger Mahnmal | Google Books
( Doktorarbeit von Corinna Tomberger )
Die Geschichte des Mahnmals lässt sich hier ausführlich nachlesen. Corinna Tombergers Verdienst ist es, eine umfassende Materialsammlung zu den ausgewählten Denkmälern zusammengetragen zu haben, darunter unveröffentlichtes Aktenmaterial und Berichte der Lokalpresse.
Gemeinhin gilt das Gegendenkmal als Erfolgsmodell der bundesdeutschen Erinnerungskultur seit den 1980er Jahren. Dieses Buch untersucht anhand zweier Fallstudien erstmals die politische Funktion des neuen Denkmaltypus. Wie dieser Ansatz zeigt, bringen beide Denkmäler, das »Harburger Mahnmal gegen Faschismus« und der Kasseler »Aschrottbrunnen«, letztlich problematische Identifikationsangebote hervor.
Die Analyse erschließt Erzählungen von feminisierten Opfern, heroischer Männlichkeit und symbolischen Wunden der Nation. Eine akteursspezifische Perspektive macht sichtbar, inwiefern sich dabei geschichtspolitische, generations- und geschlechtsspezifische Anliegen verknüpfen.
Das Gegendenkmal (Broschiert) 362 Seiten Sprache: Deutsch 22,4 x 14 x 2,4 cm
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Der Besucher ist das Monument
Das traditionelle Denkmalkonzept wird ad absurdum geführt und auf die alltägliche historische Verantwortung und Reflexionsfähigkeit der Bürger verwiesen.
Das Denkmal, so Gerz, könne dem mündigen Bürger nicht die Verantwortung für ein aktives und kritisches Politik-Bewusstsein abnehmen, denn — wie auf einer Bodenplatte neben dem versunkenen Denkmal zu lesen ist — „nichts kann sich auf Dauer an unserer Stelle gegen das Unrecht erheben“. Die Künstler schufen durch dieses Konzept ein prägnantes Bild vom „Verschwinden des Denkmals“.
Die Leerstelle dieses Negativ-Denkmals von Gerz verweist nicht nur auf historische Brüche und Verluste; sie delegiert die Aufgabe des Erinnerns und des moralisch begründeten Handelns direkt zurück an den Besucher.
[ via Goethe-Institut | Paul Sigel, Kunst- und Architekturhistoriker | Counter-Monuments – Kritik am traditionellen Denkmal ]
Harburger Mahnmal gegen Faschismus
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