Niki de Saint Phalle - Schießaktion - Szenenfoto Film 'Daddy', 1972
Vom 3. Februar bis 21. Mai 2023 zeigt die Schirn Kunsthalle, Frankfurt in einer Retrospektive mit rund 100 Werken das außergewöhnliche Schaffen von Niki de Saint Phalle: frühe Assemblagen, Aktionskunst und Grafik, die Nanas, den Tarotgarten und große späte Plastiken.
Niki de Saint Phalle (1930–2002), eine der wichtigen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, ist weltweit bekannt geworden durch ihre «Nanas»: Sie zeugen von einer scheinbar unbekümmerten Fröhlichkeit, die das Bild der Künstlerin geprägt hat. Aber Niki de Saint Phalles Schaffen ist weit mehr.
Ihr Gesamtwerk ist überraschend facettenreich – exzentrisch, emotional, düster und brutal, humorvoll, hintergründig und immer wieder herausfordernd. Das überaus breite Spektrum ihrer Tätigkeit zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und großformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, im Film und in der Architektur.
Sie beschäftigte sich intensiv mit sozialen und politischen Themen und hinterfragte Institutionen und Rollenbilder – Auseinandersetzungen, die ihre Relevanz heute wieder unter Beweis stellen. Niki de Saint Phalle hat mit ihren legendären «Schießbildern», die in provokativen Aktionen bereits in den 1960erJahren entstanden, einen entscheidenden Beitrag zu der gerade heute hochaktuellen Kunstform der Performance geleistet. Verfolgt man ihren künstlerischen Werdegang, so erscheinen vor diesem Hintergrund viele ihrer Werke, vor allem die «Nanas» und die großen Installationen im öffentlichen Raum, in einem anderen Licht.
Die Auswahl der Werke für diese Ausstellung gibt Einblick in das komplexe und hochinteressante Schaffen dieser Ausnahmekünstlerin – und natürlich bietet sie auch ein buntes, vielseitiges Sehvergnügen, das Christoph Becker als seine letzte Ausstellung für das Kunsthaus kuratiert hat.
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Schirn Kunsthalle, Frankfurt | 03. Februar bis 21. Mai 2023
Kunsthaus Zürich | bis 08. Januar 2023
NIKI DE SAINT PHALLE
Pressetext: Kunsthaus Zürich https://www.kunsthaus.ch Kurator: Christoph Becker (Zürich) Kuratorin: Katharina Dohm (Frankfurt) Digitorial der Schirn Kunsthalle ansehen Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot Audio Guides der Schirn Kunsthalle anhören Der kostenlose Audioguide, gesprochen von Joy Denalane, erläutert die wichtigsten Werke der Ausstellung
KATALOG | Niki de Saint Phalle.
Die RetrospektiveGebundene Ausgabe
Freirückenklappenbroschur
240 Seiten
195 Abbildungen
Herausgeber: Hatje Cantz Verlag
Sprache: Deutsch
23.6 x 2 x 29.1 cm
KUNST ALS VENTIL UND AUTOTHERAPIE
Die Kunst war für Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, Tochter einer Amerikanerin und eines französischen Aristokraten, ein Ausweg. Sie war in Therapie nach einer schwierigen Kindheit und wurde zum Antrieb und Ventil einer durch und durch kreativen Persönlichkeit, die nach der Übersiedlung von
Frankreich in die Vereinigten Staaten «Niki» genannt und mit Harry Mathews verheiratet, 1956 erstmals öffentlich ihre Malereien präsentierte. Und dies in St. Gallen. Ihr Lebensmittelpunkt wechselte beständig zwischen Frankreich, den USA, Italien und der Schweiz.
„1961 schoss ich auf: Papa, alle Männer, kleine Männer, große Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie, meine Mutter, alle Männer, Papa, auf mich selbst, auf Männer.“ – Niki de Saint-Phalle
In Paris war sie nach Schießaktionen auf Reliefs, die mit Gips und Farbbeuteln überzogen waren, Teil der Gruppe der Nouveaux Réalistes, als einzige Frau. Künstler wie der spanische Baumeister Antoni Gaudí, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Jean Dubuffet, Yves Klein beeinflussten sie und natürlich Jean Tinguely, den sie seit 1956 kannte und mit dem sie viele Projekte realisierte.
VIDEO | NIKI DE SAINT PHALLE. Ausstellungsfilm Kunsthalle Zürich 2022
GEMEINSCHAFTSARBEITEN IM GROßEN MAßSTAB
Die ganz große internationale Bekanntheit bekommt de Saint Phalle 1966 am Moderna Museet in Stockholm, als sie ihre erste begehbare Plastik zeigt. «Hon» ist sechs Tonnen schwer und ca. 25 Meter lang. Zwischen den Schenkeln der stilisierten liegenden Frau gelangten die mehr als 100’000 Besucherinnen in das Innere «der größten Hure der Welt», wie die Künstlerin sie nannte. An der Expo 1967 in Montreal glänzen de Saint Phalles voluminöse «Nanas» neben Tinguelys Maschinen. Gemeinschaftsarbeiten bleiben auch in den nächsten Jahrzehnten eine von ihr bevorzugte Praxis. So wie das Großprojekt «Tarotgarten», das ab 1978 in der Toskana entstanden ist. Unmöglich, Werke aus diesem Gesamtkunstwerk für eine Ausstellung herauszulösen. Aber das Kunsthaus veranschaulicht anhand von Modellen und Fotos die Größe des Projekts und die Ambition seiner Schöpferin. Zur Finanzierung lässt de Saint Phalle unter anderem Möbel und dekorative Artefakte in größeren Auflagen produzieren. Erst nach zwei Jahrzehnten ist der «Tarotgarten» realisiert.
ZWISCHEN ALTER UND NEUER WELT UNTERWEGS. ABER NIRGENDS ZUHAUSE
Zu Ausstellungen und zur Produktion ihrer Werke kommt Niki de Saint Phalle immer wieder in die Schweiz. Dank öffentlicher Aufträge sind ihre Werke inzwischen in urbanen Zentren präsent – insbesondere in Frankreich. Ab Mitte der 1990er-Jahre verlagert sie ihren Lebensmittelpunkt nach San Diego. Sie entwirft Großßinstallationen für den Kit Carson Park in Escondido zwischen Los Angeles und San Diego, die erst 2003, posthum, vollendet werden. Niki, die ihren Galeristen Alexander Iolas und ihren engen Mitarbeiter Ricardo Menon durch HIV-Erkrankungen verloren hatte, engagiert sich kenntnisreich und kreativ gegen die Ausbreitung von AIDS. Spät erst macht sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater öffentlich. Vor diesem Hintergrund wird auch der Öffentlichkeit bewusst, wie wichtig – aber keinesfalls befreiend – das Verhältnis zur Mutter gewesen ist.
Niki liebte es, Briefe zu schreiben. Vieles von dem, was wir heute über ihre Beziehungen wissen, verdanken wir ihrem fast schriftstellerischen Drang.
DIE UNSTERBLICHE
Um die Jahrtausendwende schenkte sie einige hundert Werke an das Sprengel Museum in Hannover und das Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain in Nizza. Da war sie bereits mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet, dem weltweit renommierten Kunstpreis des japanischen Kaiserhauses. Als Niki de Saint Phalle am 21. Mai 2002 stirbt – eine Grunderkrankung und die langjährige Verwendung giftiger Materialien wie Polyester und Glasfaser in der Kunstproduktion hatten zu einem tödlichen Lungenemphysem geführt – waren ihre «Nanas» zu einem Markenzeichen geworden.
GROß UND BUNT, DEZENT UND SUBTIL
Dass Niki de Saint Phalle auf ihrem Weg stets innovativ, mutig und unabhängig geblieben ist, zeigt diese Ausstellung. Im größten stützenlosen Ausstellungssaal der Schweiz sind halboffene Räume, innen teils dunkelblau, teils weiß ausgekleidet, frei auf der Fläche verteilt. Dazwischen bewegt sich das Publikum um einen Platz herum, wie in einem Dorf. Große Fensterbänder schaffen einen Bezug der Kunst zum Außenraum, so wie es die Künstlerin bei der Standortwahl für ihre Werke gerne sah. Auf zahlreichen Fotografien tritt Niki de Saint Phalle, die auch als Model gearbeitet hatte, dem Betrachter entgegen. Dem Publikum werden ungewohnte Perspektiven auf ihr Werk eröffnet, denn vieles von dem was Niki de Saint Phalle schuf, war weder vordergründig noch groß und bunt. Und so findet auch in der raffiniert szenografierten Ausstellung manche Entdeckung im Verborgenen statt.
INTROVERTIERT UND EXHIBITIONISTISCH
De Saint Phalle gibt von sich selbst viel, geradezu Intimes preis. Das traumatische Erlebnis der sexuellen Gewalt des eigenen Vaters, die belastete und problematische Bindung an die Mutter und ihr eigenes Rollenbild als Frau sind in ihrem Schaffen präsent – und viele Werke sind direkte Auseinandersetzungen, ja Abrechnungen mit dem Erlebten und den Personen. Die äußerlich elegante Frau war zudem ein Solitär in einer noch von Männern dominierten Kunstwelt, in der sie einen unverrückbaren, wichtigen Platz einnahm: beim Nouveau Réalisme und der Konzeptkunst in Interaktion mit der Welt ebenso wie in einem sehr privaten Œuvre in unzähligen Briefen und Zeichnungen. Es oszilliert zwischen großer, einladender Geste, wie in «Nana Mosaïque Noire» (1999), die mit schillernden Spiegelstücken und leuchtender Keramik verziert ist, und introvertierter Detailverliebtheit, wie in «L’accouchement rose» (1964), das eine Gebärende mit beinahe monsterhafte Zügen darstellt.
WAS FÜR EINE MARKE!
Aggressiv und emotional sind die Stichworte, die die Kunst von Niki de Saint Phalle heute am besten beschreiben. Die «Marke» der lebensfrohen Niki de Saint Phalle ist eine der augenfälligsten weit über die Kunstszene hinaus. Wir begegnen ihr in Bahnhöfen, Boutiquen und Papeterien. Als wichtige, international tätige Künstlerin im 20. Jahrhundert hat Niki de Saint Phalle den Weg zwischen Kunst und Kommerz wie keine Kunstschaffende vor ihr zu ihrem Vorteil beschritten. Ihr legendäres Parfüm wurde noch nicht wieder aufgelegt. Vielleicht ist es besser so, um den Blick auch auf die leisen Töne im künstlerischen Gesamtwerk gerichtet zu halten. Darüber und über vieles mehr lässt sich in der aktuellen Ausstellung staunen.
Wer ist das Monster – Du oder ich?
„Anstatt Terrorist zu werden, wurde ich Terrorist der Kunst.“ (Niki de Saint Phalle)
Am 21. Mai 2002 starb Niki de Saint Phalle 72-jährig. Peter Schamoni, ein Spezialist für Künstlerbiografien im Spiel- (Caspar David Friedrich) und Dokumentarfilm (Max Ernst) setzte ihr 1995 ein würdiges filmisches Denkmal. Der Film erzählt Nikis Lebensgeschichte und widmet sich ausführlich ihrem Werk und der Zusammenarbeit mit ihrem 1991 verstorbenen Ehemann, dem berühmten Schweizer Kinetikkünsler Jean Tinguely.
VIDEO | Wer ist das Monster – Du oder ich? [ Trailer ]
Am Anfang ihrer künstlerischen Karriere steckte das Fotomodell Niki in einer tiefen Identitätskrise, aus der ihr weniger die Elektroschocks als der energische Griff zum Karabiner heraushalf. Die Autodidaktin wurde berühmt durch ihre TIRS, die Schießbilder einer Amazonin. Gezielte Schüsse auf reliefartige Gips-Assemblagen brachten verborgene Farbbeutel zur Explosion, die sich mit grellen Farbströmen über den fahlen Gips ergossen. Diese Schießhappenings, die ihr Anfang der sechziger Jahre einen festen Platz im Kreis der „Neuen Realisten“ sicherten, waren Nikis erste Befreiungsaktion von einem übergroßen Vater. Sie schoss zum Spaß, um zu sehen, wie das Bild blutete und starb.
Heute, aus der Distanz lässt sich ihr mäanderndes Künstlerleben übersichtlich in verschiedene Epochen einteilen, und Regisseur Peter Schamoni hält sich im wesentlichen an die Chronologie der Ereignisse. Im ersten Wendepunkt ihres Schaffens, der Umkehr von Wut zum Schmerz, entwirft Niki schmerzensreiche, tüllverhüllte Brautskulpturen, die unentdeckte Frau als Kokon, pränatal. Der Durchbruch von Schmerz zur Freude beschert uns die Nanas.
DVD | NIKI DE SAINT PHALLE.
Wer ist das Monster – Du oder Ich?Dokumentation/Kunst, Deutschland/Schweiz 1996, 93 min
Buch / Regie: Peter Schamoni
Darsteller: Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, Bernhard Luginbühl, Laura Duke CondominasFormat: Dolby, HiFi Sound, PAL, DD 2.0
Sprache: Deutsch (Stereo)
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Format: DVD | Region: Region 2
Bildseitenformat: 4:3 ( 1.33:1 )
Spieldauer: 93 Minuten
zusätzliche Bildergalerien und sonstige Informationen (z. B. Making of)
Die sexuelle Frau, die Verherrlichung der Mutterschaft, erreicht ihren Höhepunkt mit der ,größten Hure der Welt““, der begehbaren Riesenskulptur in Stockholm mit dem Titel „“Sie – eine Kathedrale““. Die selbstbewussten und verspielten Nanas machen Niki einem breiten Publikum bekannt. Ihre Skulpturen tauchen überall auf , tummeln sich auf einem Kinderspielplatz in Jerusalem, spielen im Starvinsky-Brunnen in Paris. „Die Nanas an die Macht“ heißt ihr Slogan, die Nanas werden volkstümlich. Ab 1979 arbeitete sie an ihrem Lebenswerk: dem Tarot-Garten in der Toskana. Dieser Garten ist wie eine Rückeroberung des ureigenen Territoriums, ist eine Art Schlussstrich unter ihren langen Selbstwerdungsprozess.
PRESSESCHAU
«Zu anderen Zeiten wäre ich für immer in eine Irrenanstalt eingesperrt worden»: Die Riesenfiguren von Niki de Saint Phalle waren revolutionär. Sie sind zornig, laut und bezaubernd zärtlich
Philipp Meier für die NZZ | Artikel lesen
„Von Feministinnen wird ihre Kunst gleichwohl kritisiert. Der Argwohn richtet sich nicht zuletzt gegen ihre frühe und kurze Laufbahn als Fotomodell, in der sie es auf die Titelseite der «Vogue» schaffte, oder auch gegen die von ihr vorangetriebene Kommerzialisierung ihrer Kunst etwa durch eine eigene Parfumlinie. Die Leichtfüssigkeit aber, mit der diese aussergewöhnliche Künstlerin Frauenanliegen anging, wünschte man heute vielen Kunstschaffenden auch im Umgang mit Themen wie der #MeToo-Debatte oder der Queer-Bewegung.“
SCHIRN KUNSTHALLE Frankfurt
NIKI DE SAINT PHALLE
Ausstellung bis 21. Mai 2023
Öffnungszeiten
Fr–So/Di 10–18 Uhr, Mi/Do 10–20 Uhr.